Tod wo ist dein Sieg?

Ich stehe am Grab eines Freundes. Noch ist es von den anderen Gräbern sehr leicht an dem Hügel frisch aufgehäufter Erde zu unterscheiden. Die Blumen und Kränze, die das neue Grab schmücken, sind noch saftig und voll Farbe. Trotz dieses Schmuckes tritt mir aber doch die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens – und auch meines Lebens – sehr ungeschminkt vor die Augen. Ein Grabbesuch hat gelegentlich etwas Bedrohliches an sich. Man wird von neuem an den Verlust erinnert, den der Tod eines Mitmenschen bedeutet, und er zeigt auch die eigene Vergänglichkeit auf. Er erinnert uns wieder daran, dass wir hier auf Erden keine bleibende Stätte haben. Dass wir nur Pilger hier auf Erden sind.
In Gedanken versunken kehre ich nach einer Weile heim. Auf meinem Weg durch die mit herbstlichem Laub bedeckten Straßen gehen mir allerlei Gedanken durch den Kopf. Noch scheint mein eigener Tod in sicherer Ferne. Ich könnte mich von meinen Gedanken abwenden und mich in den reißenden und quirlenden Strom des Lebens zurückwerfen, der jeden Gedanken an ein Ende verscheucht.
Aber möchte ich die Auseinandersetzung mit dem Tod mein Leben lang hinausschieben? Wann will ich anfangen, mich mit meinem Tod zu befassen? Möchte ich zu denen gehören, die erst dann dem Tod ins Auge schauen, wenn sie seinem Blick nicht mehr ausweichen können, wenn er direkt vor der Türe steht und in Form einer schweren Krankheit oder Ähnlichem anklopft? Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass Sterben ein Leben lang gelernt sein will. Die, die sich erst im Alter mit dem Sterben befassen, lernen es in der Regel auch dann nicht mehr.
Was muss ich also tun? Einige Dinge scheinen mir besonders wichtig. Erstens will ich einer derer sein, die, um mit dem Gleichnis Jesu zu sprechen, sofort aufstehen und ihrem Herrn öffnen, wenn er an die Türe klopft (vgl. Luk 12,36). Mit anderen Worten, ich muss schon jetzt während meines Lebens hier auf Erden versuchen, mit Gott ein so freundschaftliches und vertrauliches Verhältnis aufzubauen, dass ich Ihm mit Freude entgegengehen kann, wenn Er mich holen kommt. Dazu muss ich ein Leben im Stande der Gnade führen, wie die Kirche es formuliert. Was heißt denn, im Stande der Gnade sein? Im Stande der Gnade sein heißt die heiligmachende Gnade besitzen. Die heiligmachende Gnade ist das übernatürliche Leben der Seele, eine Anteilnahme am Leben Gottes. Gott wird der Seele “ihr Eigen”, wie der hl. Johannes vom Kreuz sagt. Er hebt also den Menschen aus seinem nur natürlichen Leben heraus in die übernatürliche Welt hinein. In der Taufe habe ich diese heiligmachende Gnade erlangt. Ich muss auf der Hut sein, sie nicht durch Zustimmung zu einem schweren Verstoß gegen das Gebot Gottes zu verlieren.
Zweitens muss ich bei aller Bemühung, den materiellen Zustand in meiner Umwelt zu verbessern und dem Heil der Seelen und der Mission Christi zuträglicher zu machen, doch immer mehr mich innerlich vom Geschaffenen lossagen. Dann wird es mir leichter fallen, alles zurückzulassen, was ich sowieso nicht in die Ewigkeit mitnehmen kann.
Drittens muss ich lernen, Sinn im Leid zu sehen. Das kann mir helfen, in der Krankheit, die eventuell dem Tod vorausgeht, geduldig und vor allem im Bewusstsein, dass auch dieses Leid zu etwas gut ist, durchzuhalten. Aber auch schon für das Leben ist es wichtig zu lernen, Leid anzunehmen. Der Zustand hier auf Erden wird nie vollkommen sein. Je nach Charakter werden wir auch mehr oder weniger unter diesem unvollkommenen Zustand zu leiden haben. Man sollte immer bemüht sein, das Positive in den Dingen zu sehen und bei allem Negativen, das einem begegnet, nicht vergessen, was Gott einem schon alles an Positivem geschenkt hat oder was Er einen hat erleben lassen. Aber es gibt Ereignisse, deren Problematik sich nicht leugnen lässt. Sie bedeuten Unannehmlichkeit oder Leid für mich. Sie bedeuten, dass ich etwas von mir geben muss, dass ich etwas verliere oder dass etwas von mir genommen wird. Da lässt sich nichts rumdeuten. Aus rein natürlicher Sicht hat ein solcher Zustand oder ein solches Ereignis nichts Gutes an sich. Da bleibt einem nur, Trübsal zu blasen oder gar zu verzweifeln, weil momentan alles einfach nur schlecht ist. Der übernatürliche Blick dagegen erschließt einem eine ganz andere Sicht. Weil er die gesamte Realität einschließt. Er sieht das ganze Bild. In diesem hat auch das Leid seinen Wert. Wir kommen weiter unten auf diesen Gedanken zurück.
Der Psychologe Manfred Lütz schreibt einmal in seinem Buch “Irre!”, im Kapitel über Sucht (S. 123): “Und so sind Drogen oft allenfalls die künstliche Antwort auf die alle beunruhigende, ins Nichts verhallende tiefe Frage nach dem Sinn des Lebens”. Besonders in Zeiten der Not, in Zeiten der Unzufriedenheit, aber auch in Zeiten des Überdrusses an den Vergnügungen des Lebens stellt sich der Mensch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und auch am Grab drängt sich diese Frage auf. Was hat alles für einen Sinn gehabt, wenn es doch mit dem Tod endet?
Die Frage nach dem Sinn des Lebens hängt sehr eng mit der Frage nach dem Tod zusammen. Wenn wirklich mit dem Tod alles endet, dann kann man schon gelegentlich die Krise kriegen und sich fragen, was dann mein Leben überhaupt für einen Sinn gehabt haben soll. Es war möglicherweise zeitweise sehr schön, aber das ist jetzt vergangen und somit nicht mehr. Und wenn auch oft gesagt wird: “ich lebe aus der Erinnerung”, so hält sich die Erfüllung, die die Erinnerung an vergangenes Glück geben kann, doch sehr in Grenzen, wenn vor einem nur noch das Nichts liegt. Ganz anders sieht es aus, wenn mein Ziel ein anderes Leben ist – ein übernatürliches Leben – das, da es übernatürlich ist, auch überzeitlich ist. Dieses übernatürliche Leben soll ich erreichen. Daher muss ich die Zeit hier auf Erden dazu nutzen, mich mit meiner Freiheit immer wieder für Gott, für das Gute zu entscheiden. Dazu hat mir Gott ja die Freiheit gegeben – dass ich mich in Freiheit für Ihn entscheide. Und ich entscheide mich für Ihn, weil Er der Gute ist, weil in Ihm das Leben ist. Wenn ich das tue, dann kann sich auch Gottes Angebot verwirklichen – uns an Seinem Leben teilhaben zu lassen. Daher ist das übernatürliche Leben auch göttliches Leben. Wir dürfen in Gottes Leben eintauchen. Und das nicht erst nach dem leiblichen Tod, sondern schon hier auf Erden. Noch sehen wir zwar Gott nicht von Angesicht zu Angesicht, aber dadurch, dass wir unseren Willen dem Willen Gottes gleichförmig gemacht haben, sind wir in Gott eingetaucht.
Das übertrifft jede irdische Freude. Daher gab und gibt es auch Menschen, die alle irdische Freude aufgeben – weil sie wenigstens entfernt verstanden haben, worum es geht. Und angesichts dieser Vereinigung mit Gott, diesem Gegründetsein in Gott oder Eingetauchtsein in Gott verliert alles andere an Wert. Heilige sind daher keine Lebensverneiner oder traurige Gemüter, sondern Menschen, die nach viel höheren Dingen streben und viel mehr Leben erreichen wollen als andere.
Wie gesagt, mit diesem Blick auf das Leben erhält auch Leid seinen Sinn. Wenn ich Leid frei annehme, dann kann ich daran lernen, auch von mir selber abzusehen und mir selber zu entsagen, ich kann mich mit Christus in Seinem Leiden vereinigen und gemeinsam mit Ihm mein Leid aufopfern zur Sühne für begangenes Unrecht – sei es meines oder das anderer Menschen – und damit meinen kleinen Teil zur Wiedergutmachung und damit zur Überwindung des Bösen leisten. Und ich kann im und durch das Kreuz Gott meine Liebe zu Ihm unter Beweis stellen, wie ja sonst auch die Liebe zweier Menschen im Kreuz ihre Läuterung und Vertiefung erfahren kann.
Das alles lässt sich natürlich sehr leicht sagen, wenn man selber gerade nicht allzu hart betroffen ist. Aber wenn man bis zum Hals drinsteckt, dann bedarf es wirklich einer großen Überzeugung, Sinn im Leid zu sehen. Daher ist es hilfreich, die notwendige innere Haltung beispielsweise an den kleinen Ereignissen des Alltags, die mir schwerfallen, zu üben.
In der übernatürlichen Sicht erhalten übrigens auch die schönen Dinge des Lebens, die notwendigen Entspannungen, die man gelegentlich braucht, ihre Bedeutung – womit wir wieder bei den Heiligen wären, die keine traurigen Gemüter waren, sondern es durchaus auch verstanden, sich an den schönen Dingen zu erfreuen. Ich muss nur immer die richtige Ordnung einhalten, darf nicht das Geschaffene über den Schöpfer setzen und um seiner selbst willen suchen. Auch mich selber darf ich nicht um meiner selbst willen suchen. Tue ich das, so werde ich bald merken, dass mir das nicht den gesuchten Frieden, den Frieden in der Erfüllung, gibt. Interessanterweise haben selbst moderne Psychologen erkannt, dass ich Sinn nur außerhalb meiner finde und dass ich, wenn ich dem Menschen Sinn geben will, ihm daher etwas geben muss, was etwas anderes ist als er selber.
Weil der herbstliche Nachmittag so schön ist, nehme ich mir noch die Zeit, einen Umweg durch den Schlosspark zu machen. Die vielen Laubbäume zeigen die ganze Schönheit des Herbstes. Mein Weg, der jetzt schmaler wird und nur noch mit Kies bedeckt ist, windet sich durch die kleinen Wälder dahin, vorbei an kleinen Seen, auf denen sich Gänse für ihre Reise in den Süden sammeln.
Die Gedanken über das übernatürliche Leben lassen mich jetzt auch die Bedeutung der Texte der Totenmesse verstehen, der ich bei der Beerdigung meines Freundes beiwohnte. “Vita mutatur, non tollitur – das Leben wird umgewandelt, nicht hinweggenommen”, hieß es dort in der Präfation. Dass das Leben nicht hinweggenommen wird, muss sich auf das übernatürliche Leben beziehen. Denn das leibliche Leben wird ja zunächst von mir genommen – bis ich einen verklärten Leib erhalte bei der Auferstehung der Leiber. Aber das übernatürliche Leben – wenn ich es denn hier auf Erden begonnen habe – geht weiter.
Weiter betet die Kirche im “Dies irae”, das Teil des Requiems ist: “Qui Mariam absolvisti, et latronem exaudisti, mihi quoque spem dedisti” - “Du, der du Maria (Magdalena) losgesprochen hast und den (reuigen) Schächer erhört hast, hast auch mir Hoffnung gegeben”. So will auch ich hoffen. Will tun, was in meinen Kräften steht. Im Übrigen aber mich der göttlichen Barmherzigkeit übergeben, dass Gott mich führt und leitet durch Seine Erleuchtung. Und dass Er mir in den verschieden Situationen die Kraft schenkt, das zu tun, was ich als das Gute erkannt habe. Dieser Gedanke und der Gedanke daran, dass ich mit der Hilfe Gottes Anteil am ewigen Leben haben darf, lässt mich mit dem hl. Paulus ausrufen: “Tod, wo ist dein Sieg?” (1 Kor. 15, 55).

P. Johannes Heyne

 

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